Ein dunkeler Schacht ist Liebe, …


eine tiefe, anziehende Unergründlichkeit. Liebe ist das Gefühl einer innigen Verbundenheit und die stärkste Art der Zuneigung, die ein Mensch für einen anderen Menschen empfinden kann. Das Phänomen der Liebe wurde und wird in den verschiedenen Epochen, Kulturen und Gesellschaften unterschiedlich aufgefasst. Besonders in der Epoche der Romantik galt es als Grundbedürfnis, seiner Liebesempfindung Ausdruck zu verleihen. Dies geschah bevorzugt durch Gedichte und Musik. So avancierte das Lied zu einer beliebten Ausdrucksform für die Liebe.


Johannes Brahms gehört zu den wenigen deutschen Komponisten, die während ihrer gesamten Schaffenszeit die Vokal-Kompositionen nicht nur „nebenher“ pflegten, sondern diese mit großer künstlerischer Ambition während ihres gesamten Schaffensprozesses zu vervollkommnen suchten. Brahms Liedkompositionen zeigen ihn als ein Schüler und Nachfolger Schuberts, dessen Errungenschaften er aufgriff und weiterentwickelte. Brahms´ intensive Beschäftigung mit der Vokalmusik ergibt sich aus dem Verlauf seiner Biographie: Bereits als 13-Jähriger sammelte er Erfahrungen mit dem Männerchor seiner Gemeinde, den er aushilfsweise dirigierte und für den er kleine Volkslieder bearbeitete und arrangierte. Obwohl Brahms von Robert Schumann in dessen Artikel Neue Bahnen in der Neuen Zeitschrift für Musik als „Berufener“ in die Musikerwelt eingeführt wurde, unterlag Brahms seiner kompromisslosen Selbstkritik, die ihn fast alle seiner bis dahin entstanden Chorkompositionen vernichten ließ. Nachdem Brahms 1857 als Chorleiter an den Detmolder Hof verpflichtet wurde, studierte er sowohl die Chorwerke Schumanns, als auch die altklassische Vokalpolyphonie eines Palestrina, Lotti und Durante. Nachdem er in Detmold wertvolle Erfahrungen im Bereich der Chor- und Kammerkompositionen sammeln konnte, siedelte Brahms, der sich von den Aufgaben als Detmolder Chorleiter überfordert sah, im Jahr 1859 nach Hamburg über. Bereits 4 Jahre später folgte er einem Ruf in die österreichische Hauptstadt, wo er zum Chormeister der Wiener Singakademie gewählt wurde. Hier setzte er sich intensiv sowohl mit dem Liedschaffen Franz Schuberts auseinander als auch mit der Tanzform des Walzers. Die erste Sammlung der Liebeslieder-Walzer entstand jedoch nicht direkt in Wien, sondern in Lichtenthal, wo Brahms den Sommer des Jahres 1868 verlebte. Hier komponierte er zuvor die Streichquartette op. 51, in denen das Muster des gängigen Walzers bereits neue Ausformungen findet. In den Liebeslieder-Kompositionen verknüpft Brahms schließlich die Möglichkeiten des Ensembleliedes mit denen des Klavierwalzers zu vier Händen. In heiterster Laune beschreiben die Liebeslieder op. 52 die vorehelichen Freuden der Liebe und erzählen von vielfältigen erotischen Verlockungen. Als Textgrundlage für die Sammlung op. 52 dienten ihm Gedichte aus der Sammlung Polydora des Nürnberger Gymnasiallehrers Georg Friedrich Daumer. Der Dichter wiederum bezog seine Textgrundlagen aus internationalen Volksdichtungen, die auf russischen, ungarischen und polnischen Vorlagen beruhen. Brahms hat diese Texte so vertont, dass er den Hauptgedanken der jeweiligen Gedichte pointiert und in musikalischen Ausdruck umsetzte. Vielgestaltig wie die Liebe zeigen sich nun die Texte Daumers, von denen Brahms meint: „Übrigens möchte ich doch riskieren, ein Esel zu heißen, wenn unsere Liebeslieder nicht einigen Leuten Freude machen.“ So reiht sich Heiteres (Ein kleiner hübscher Vogel) an Ironisch-Freches (O die Frauen) und wird durch weiche Kantilenen des Liebesgeständnisses (Wenn so lind dein Auge mir) ergänzt. Über diese lebendigen Walzerkompositionen schreibt der Musikkritiker und Freund von Brahms Eduard Hanslick: „Brahms und Walzer! Zwei Worte, die sich erstaunlicherweise auf ein und demselben Titelblatt finden. Brahms, der ernste, schweigsame Brahms, Norddeutscher und Protestant, der Weltverachter Brahms schreibt Walzer! Nur ein Wort kann das Geheimnis lösen: Wien!“Abwechslungsreich erscheint die Besetzung der Vokalpartien: Soli von Sopran und Tenor (Wohl schön bewandt war es & Nicht wandle mein Licht) reihen sich zu zwei Duetten für Tenor und Bass und drei Duetten für Sopran und Alt, während die übrigen Walzer alle vier Gesangsstimmen beteiligen. Dabei werden Ländlertempo (Rede, Mädchen, allzu liebes), schmissiger Elan (Am Gesteine rauscht die Flut) und Wiener Charme (Wie des Abends schöne Röte), sowie die Affinität zum Walzer Typus von Johann Strauß (Die grüne Hopfenranke) mit furiosen ungarischen Tönen (Nein, es ist nicht auszukommen) so verknüpft, dass die Walzerfolge trotz sorgfältiger Überarbeitung durch Brahms spontan, fast angenehm improvisiert klingt. Die Komposition dieser lyrisch-schwelgenden Folge von Liebesliedern wurde wahrscheinlich inspiriert durch Brahms innige Zuneigung zu Julie Schumann, der 3. Tochter seines Gönners und Freundes Robert Schumann. Doch leider verlief auch diese Leidenschaft wie alle anderen in Brahms´ Leben unglücklich. Zudem war die Veröffentlichung der Sammlung op. 52 von einem Streit zwischen Brahms und seinem Verleger Simrock überschattet: Um eine größere Käuferschicht anzusprechen, fügte Simrock dem Werk eigenmächtig die Bezeichnung „mit Gesang ad libidum“ hinzu. Für den Gesangspart hatte Brahms ursprünglich ausdrücklich eine solistische Besetzung vorgesehen und wandte sich zunächst strikt gegen die chorische Aufführung. Erst später änderte er seine Meinung. So erwidert Brahms seinem Verleger: „Die Walzer müssen ebenso erscheinen, wie sie sind. […] Durchaus dürfen sie fürs erste nicht ohne Singstimme gedruckt werden. So müssen sie den Leuten vor Augen kommen. Und hoffentlich ist es ein Stück Hausmusik und wird rasch viel gesungen. […]“ Von Brahms als Hausmusik konzipiert, verschmelzen hier eingängige Melodien mit kontrapunktischer Klarheit und Transparenz, so dass diese Musik von – freilich gut ausgebildeten – Dilettanten des 19. Jahrhunderts im bürgerlichen Salon gut zu bewältigen war. Bereits kurz nach ihrer Veröffentlichung erfreuten sich die Liebeslieder-Walzer großer Beliebtheit und wurden somit ein künstlerischer und kommerzieller Erfolg. Wegen dieses großen Erfolges ließ Brahms im Jahr 1874 eine zweite Sammlung von 15 weiteren Liedern als Neue Liebeslieder op. 65 folgen. Für diese Sammlung wählt der Komponist dieselbe Besetzung, Konzeption und Komplexität. Bis auf eine Ausnahme stammen die Textgrundlagen wieder aus der Sammlung Polydora von Georg Friedrich Daumer, dessen Dichtungen Brahms wiederum mit Witz und Ironie umsetzte. Dennoch mutet die Textauswahl des 2. Zyklus eher düster an: Daumers Verse erzählen weniger von den Wonnen der Liebe, als von Misstrauen (Rosen steckt mir an die Mutter), Enttäuschung (An jeder Hand die Finger) und Verzicht (Verzicht, o Herz, auf Rettung). Dies wird auch in den weniger verspielten, herberen aber auch leidenschaftlicheren Kompositionen hörbar. Vielleicht resümiert Brahms mit der Komposition der zweiten Sammlung der Liebeslieder-Walzer seine eigenen, stets unglücklich verlaufenden Liebesbeziehungen: Eine innige seelische Verbundenheit empfand er für die Frau seines Gönners und Freundes Robert Schumann. Der umfangreiche Briefwechsel zwischen Clara Schumann und Brahms wurde im gegenseitigen Einvernehmen fast vollständig vernichtet. Doch allein die wenig erhaltenen Briefe von Brahms spiegeln eine leidenschaftliche Zuneigung wider, wenn Brahms an Clara schreibt: „Meine geliebte Clara!“ oder „Deine Briefe sind mir wie Küsse!“. Auch die Verlobung mit der Sängerin Agathe von Siebold, für die Brahms mehrere Liebeslieder komponierte, wurde gelöst, bevor es zu einer Eheschließung kommen konnte, weil Brahms sich für eine feste Binde außerstande sah. Dieses Jammer und Glück der Liebe beschließt in Versen Goethes die Kompositionen der beiden Liebeslieder-Zyklen. Die neue Textqualität der letzten vier Verse aus Goethes Elegie Alexis und Dora verbindet sich unüberhörbar in einer höheren Sphäre des Musikalischen.


Sphärenhaft erklingen zwischen den Liebeslieder-Sammlungen die Six Épigraphes, die aus der Spätphase Debussys stammen. Ursprünglich als Schauspielmusik konzipiert, formte der französische Komponist daraus sechs ausgewählte Episoden zu einem vierhändigen Klaviersatz. Welt-enthoben tänzeln heitere, düstere, ängstliche und verträumte Stimmungen durch das dem Impressionisten typische Klangspektrum. Charakteristischer muten die zwei der eigentlich Fünf Stücke für Klavier zu vier Händen von Ligeti an. Eindeutiger als bei Debussy erscheint die Zuordnung der Facetten, die uns das Leben aufzeigt. Hier erklingt wieder mehr Erdennähe und damit die Erinnerung an das wackelnde Gemüt der Liebenden, das einzig durch die Musen besänftigt und getröstet zu werden vermag.